Jugendbewegungen aus Sicht junger Menschen

In einer CORAX-Ausgabe über Jugendbewegungen zu schreiben, ohne junge Menschen aus diversen Bewegungen nach ihren Perspektiven zu fragen, war für uns keine Option. Dementsprechend haben wir Kontakt zu Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus bündischen, verbandlichen und losen Jugendgruppen bzw. -initiativen, aus Kollektiven und selbstorganisierten Gruppen aufgenommen. Es freut uns sehr, dass einige der aktiven jungen Menschen Zeit gefunden haben, auf verschiedenen Wegen ihre Gedanken und Antworten unsere Fragen mit uns zu teilen.

Wir haben mit fünf Bundesfreiwilligen der Jugendburg Ludwigstein ein Gruppengespräch geführt. Lukas von der DGB-Jugend Sachsen gab uns ein schriftliches Interview und mit Tyran von Fridays for Future Dresden haben wir uns via Messenger zu den Fragen ausgetauscht. Wir wollen die Perspektiven junger Menschen so abbilden, wie sie uns gezeigt worden sind. D. h. die Antwortbeiträge sind die „O-Töne“ unserer Gesprächspartner*innen. Für uns waren und sind die Sichtweisen junger Menschen eine große Bereicherung. Wir hoffen für Sie/Euch, liebe Leser*innen, auch.

Hier finden Sie das ausführliche Interview mit den Freiwilligen der Burg Ludwigstein zum Beitrag „Bewegte Jugend?! Jugend bewegt! Jugendbewegungen aus Sicht junger Menschen“ in der CORAX-Ausgabe 1/2024.

Bundesfreiwillige der Jugendburg Ludwigstein

CORAX: Versteht ihr euch als Teil einer Jugendbewegung und was bedeutet das für euch?

Vincent: Für mich ist das etwas sehr Persönliches. Ich bin durch meine Familie zu den Pfadfindern gekommen. Alle möglichen Menschen aus meiner Familie, mein Onkel, mein Vater, meine Großmutter sind Pfadfinder (gewesen). Ich bin zum Stamm gekommen, weil mein Onkel und mein Cousin mich reingeholt haben. Dieser Stamm ist für mich auch Familie, also nicht nur meine Familie, sondern auch alle meine Freunde, die ich da kennengelernt habe. Ich liebe die Pfadfinder einfach. Der Stamm lässt sich schon mit einer Familie vergleichen.

Sven: Ich bin durch meine Freunde zu den Pfadfindern gekommen und die Pfadfinder haben eine große Bedeutung für die Freundschaft, weil ich hier meine Freunde wiedertreffe, auch wenn wir uns sonst nicht mehr so häufig sehen, weil wir nicht mehr im selben Ort wohnen und auf unterschiedliche Schulen gehen. Die Pfadfinder sind ein guter Ort, um mit Leuten immer wieder Kontakt aufzunehmen, z. B. durch eine Fahrt.

CORAX: Was macht eine Jugendbewegung für euch aus?

Vincent: Jugendbewegung bedeutet für mich, dass eine Gruppe von Jugendlichen zusammenkommt und Sachen unternimmt. Man trifft sich z. B. für Gruppenstunden und macht eine coole Aktivität, wie gemeinsam Stockbrot machen, zusammen singen und spielen. Wir haben halt ganz viel Spaß zusammen

Sven: Ich stimme Vincent zu. Ich finde es bei Jugendbewegungen besonders wichtig, dass die Jugendleiter*innen auch selbst jung sind. Also quasi, dass es nur Jugendliche sind, die etwas zusammen tun.

Emma: Ich bin hier auf der Burg, also im Archiv der deutschen Jugendbewegung, das erste Mal in Kontakt mit überbündischen Sachen und jugendbewegten Themen gekommen und hab mich viel damit auseinandergesetzt. Für mich bedeutet Jugendbewegung, dass nicht nur Jugendliche, sondern auch junge Erwachsene versuchen ihre Meinungen und ihre Vorhaben durchzusetzen und schauen, inwiefern sie Sachen verändern können, die für sie wichtig sind. Allein mit dem Aufbau dieser Burg haben sie ein Zuhause für sich als Jugendliche schaffen wollen, um sicher zu sein vor der Diktatur von außen. Hier drin begegnen sich alle auf einer Ebene und es gibt keine Hierarchien.

CORAX: Was verbindet euch als Bewegung? Was verbindet euch über die Bünde hinaus?

Vincent: Meine Erfahrung ist, dass man auf so überbündischen Veranstaltungen immer nette Leute kennen lernt, die alle entweder denselben Lifestyle haben oder dieselbe Sicht auf die Welt bzw. wie man sich als Pfadfinder in der Welt fühlt. Man trifft sich und quatscht miteinander, das ist toll.

Sven: Okay, ich kann da gar nicht so viel mehr dazu sagen.

CORAX: Ihr habt gerade euer Weltbild angesprochen. Was habt ihr denn für ein Bild von der Welt?

Sven: Also eher so ein linksgestimmtes Weltbild, sehr fokussiert auf Natur- und Umweltschutz, das Miteinandersein und Füreinandersein, z. B. dass alle Menschen gleich sind und dass man auch dafür kämpft, dass das auch so bleibt und so sein sollte.

CORAX: Würdet ihr sagen, dass euch das bei den Pfadfindern verbindet?

Sven und Vincent: Auf jeden Fall, 100%ig würde ich sagen.

Vincent: Du kommst in die Pfadfinderszene rein und alle lieben die Natur. Wenn man mit den Leuten redet, merkt man richtig, dass einen das verbindet. Man redet begeistert über diese Themen und es ist einfach schön. Man fühlt sich wie zu Hause.

CORAX: Ihr habt das gerade schon politisch eher links verortet.

Vincent: Kann man so sagen.

CORAX: Wenn man sich im Archiv der Jugendbewegung mit der Geschichte der Jugendbewegungen auseinandersetzt, gab es politisch sehr unterschiedlich ausgerichtete Jugendbewegungen, u. a. völkische Jugendbewegungen. Auch mit Blick auf das große überbündische „Meißner Treffen 2013“, in dem es u. a. auch darum ging: Wen wollen wir dabeihaben? Habt ihr euch mit der politischen Vergangenheit der Jugendbewegungen auseinandergesetzt? Wie geht ihr damit um bzw. habt ihr das Bedürfnis euch dazu zu positionieren?

Vincent: Ich würde schon sagen, dass die Vergangenheit eine Rolle spielt. Ich bin allerdings kein Experte darin und hab mich nicht vertiefend damit auseinandergesetzt. In der Vergangenheit, als die Pfadfinder verboten und durch die HJ ersetzt wurden, gab es schon Sachen, die man wissen sollte. Die Pfadfinder wurden dann schon eher Freiheitskämpfer. Daran sieht man, dass das Bündische schon eher linksorientiert war und man auf jeden Fall – bei den Pfadfindern – keinen Platz für Nazis hatte.

Emma: Ich würde gern aus der Perspektive von einer Person, die nicht in einem Bund ist, etwas sagen. Was ich in den letzten sechs Monaten hier im Archiv gelernt habe: Nicht jeder Bund konnte links eingeordnet werden. Es gab auch Bünde, die sich entweder auf gar keine Seite stellen wollten oder in ihrem Denken sehr konservativ waren. Das gibt es auch heute noch bei einigen Stämmen bzw. Bünden. Es gibt auch Bünde, wo die Leute auch ein paar über 50 sind und in ihrer eigenen Bubble, in der sie ihr konservatives Denken weiterverbreiten. Aber das sind auch Bünde, die beispielsweise bei anderen Bünden oder überbündischen Treffen nicht gewollt sind. Die meisten Bünde sind schon eher linksorientiert und haben kein Interesse daran, dass sich die Vergangenheit wiederholt und Bünde, wie z. B. die Pfadfinder verboten oder andere Bünde ausgeschlossen werden.

CORAX: Wir würden abschließend gern noch über ein schwieriges Thema mit euch sprechen, weil wir es mit Stephan und Mario gerade viel diskutiert haben. Bünde sind im Kontext von Reformpädagogik und Reformbewegungen entstanden. Reformpädagogik war an bestimmten Stellen auch Deckmantel sexualisierter Gewalt. Inwiefern ist das für euch ein Thema? Und wie geht ihr mit Prävention um? Wir haben zum Beispiel von der Gruppe „Tabubrecher“ gehört.

Vincent: Ich kann erzählen, wie es bei mir im Stamm ist. Von den Tabubrechern habe ich z. B. noch nichts gehört. Bei uns ist es tatsächlich so, dass ich von keinem Fall von sexualisierter Gewalt in meinem Stamm weiß oder es wurde vertuscht. Aber wir legen richtig Wert auf Prävention. Ich bin z. B. gerade zum Hilfsleiter aufgestiegen und darf in die Arbeit mit den Kindern reinschnuppern. Um richtiger Leiter zu werden, muss man aber eine ganze Präventionsschulung absolvieren und ein Führungszeugnis abgeben. Wenn es eine Eintragung im Führungszeugnis gibt, dann darf man nicht mit Kindern arbeiten, was ich völlig richtig finde.

Sven: Bei uns muss man auch eine Präventionsschulung machen, wenn man Leiter werden will. Bei uns gibt es für alle Stufen eine Schulung „sexualisierte Gewalt erkennen und Prävention machen“ – also nicht nur für Leiter, sondern dass auch alle Leute bei Lagern darauf achten.

Vincent: Ich finde, dass wir da viel besser geschult sind, als z. B. Lehrer. Ich hab kürzlich erfahren, dass meine Lehrer keine Präventionsschulung hatten. Und ich habe auch das Gefühl, dass Lehrer gar nicht darauf getestet werden, ob sie wirklich mit Kindern arbeiten können, sondern nur das materielle Wissen mitbringen müssen, um die Schüler theoretisch unterrichten zu können. Das ist bei uns ganz anders. Ich habe auch Geschichten aus der Vergangenheit gehört, auch über die sexualisierte Gewalt, und die fand ich richtig schrecklich. Ich hoffe, das gibt es heute nicht mehr.

Emma: Dadurch, dass ich die letzten Monate im Archiv gearbeitet und Mario bei einigen Aufgaben geholfen habe, weiß ich, dass es in Berlin gerade diese Ausstellung zu sexualisierter Gewalt gibt. In der Ausstellung geht es vor allem um die Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt auch in Jugendbewegungskreisen. Und es gibt auf der Burg ein Schutzkonzept. Gerade wird daran gearbeitet, wie das Schutzkonzept für Kinder und Jugendliche noch sichtbarer wird. Dadurch, dass es eine Jugendburg ist, ist es auch sehr wichtig für alle Mitarbeiter auf der Burg, dass alle das Schutzkonzept kennen. Und es ist wichtig, dass alle, die auf die Burg kommen, das Schutzkonzept kennen und wissen, dass sie sich an jemanden wenden dürfen. Wir, die Bundesfreiwilligen, hatten ein mehrstündiges Seminar über sexualisierte Gewalt und sind Ansprechpartner dafür. Und meines Wissens ist das in jedem Bund so. Und ich merke, dass es auch jeder Person, die hier auf die Burg kommt, wichtig ist, dass es das Schutzkonzept gibt.

CORAX: Danke schön. Habt ihr noch etwas, das ihr gern noch loswerden wollt.

Xxx: Ich bin selber außerbündisch hier, aber ich kann mich Emma nur anschließen, dass das Schutzkonzept wichtig ist und persönlich bzw. im Kontext hier auch betont wird.

Noah: Ich kann mich den anderen nur anschließen, von dem, was ich mitbekommen habe und finde es gut, dass wir so ausführlich über das Thema geredet haben und dass wir zum Thema aufgeklärt wurden bzw. Seminare hatten. Ich finde es ebenso erschreckend wie Vincent, dass Lehrer dazu keine Aufklärung, keine Seminare haben und jederzeit jeden Schüler unterrichten dürfen. Ich glaube, jüngere Generationen und auch Freiwillige über sexualisierte Gewalt und Schutzkonzepte aufzuklären, könnte eine richtiger Schritt sein für kommende Generationen von Pädagog*innen.

CORAX: So haben wir das Projekt Tabubruch auch verstanden, dass es um Prävention geht und die Tabubrecher*innen auch als Akteur*innen und Ansprechpartner*innen auftreten.

Jakob: Also sozusagen, um das Tabu zu brechen.

CORAX: Ja, genau.

Vincent: Ich kannte das persönlich nicht unter dem Namen Tabubruch. Aber es gibt auf jedem Lager, egal ob in meinem Stamm oder überbündisch Personen, die namentlich und mit Erkennungszeichen vorgestellt werden. Es wird dann gesagt: Wenn dich irgendetwas bedrückt – hier sind Personen, mit denen kannst du reden. Ich kann mich nicht erinnern, dass es ein Lager ohne diese (Ansprech-)Personen gibt.

Jakob: Sozusagen Awareness-Teams.

CORAX: Danke für das Gespräch und noch eine letzte Frage, die gar nicht mehr direkt zum Interview gehört. Würdet ihr Jugendbewegungen wie FFF auch als Jugendbewegung verstehen?

Jakob: Klar, ist das eine Jugendbewegung. Vielleicht nicht als klassische Jugendbewegung wie sie hier auf der Burg verstanden werden. Es ist die größte Jugendbewegung unserer Zeit.

Vincent: Ich glaube, es ist nicht nur eine Jugendbewegung. Es ist eher eine offene Bewegung, weil auch andere Gruppen dabei sind.

Emma: Ich hätte sie auch nicht als klassische Jugendbewegung gesehen. Hier auf der Burg wird unter Jugendbewegung schon etwas anderes verstanden. Von der Aktion her, würde ich es schon als jugendbewegte Aktion sehen.

Jakob: Es geht ihnen weniger um Freizeit, sondern mehr um das Politische.

Noah: Aber was für eine Jugendbewegung zählt, ist dass es von Jugendlichen ausgelöst wurde. Und dementsprechend würde ich doch dazu tendieren, dass FFF eine Jugendbewegung ist. Es sind ja vor allem Jugendliche.

CORAX: Zumal sich erwachsene Unterstützer*innengruppen Namen in Anlehnung geben, z. B. die „Teachers for Future“ oder „Parents for future“. Abschließend noch einmal: Herzlichen Dank für die Zeit, die ihr euch für uns und das Interview genommen habt.

Das Gespräch für den CORAX führten Michaela Gloger und Alina Peters.

Zuständigkeiten auf Landesebene

Hier finden Sie das Schaubild „Zuständigkeiten für den Bereich §§ 11 bis 14 und 16 SGB VIII auf Landesebene“ von Christian Hager aus der CORAX-Ausgabe 5&6/2023.

Christian Hager – Mitglied der CORAX-Redaktionsgruppe

Weiterführende Links:

Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII): www.gesetze-im-internet.de/sgb_8/

Landesjugendhilfeausschuss (LJHA): www.landesjugendamt.sachsen.de/landesjugendhilfeausschuss-3953.html

Landesjugendamt: www.landesjugendamt.sachsen.de

Sächsischen Staatsministerium für Soziales und Gesellschaftlichen Zusammenhalt: www.sms.sachsen.de/aufgaben-und-zustaendigkeiten.html

Kommunaler Sozialverband Sachsen (KSV): www.ksv-sachsen.de/foerderung-von-kindern-und-jugendlichen.html

Finanzierung der Jugendarbeit in Sachsen

Hier finden Sie die vollständige Fassung der Beschwerde zum Beitrag „Finanzierung der Jugendarbeit in Sachsen. Eine kritische Betrachtung“ von Maik Friedrich in der CORAX-Ausgabe 5&6/2023.

Absender:
XXX

Landesdirektion Sachsen
XXX
Adresse

Beschwerde gegen Förderpraxis des Landkreises gegenüber anerkannten Trägern der freien Jugendhilfe im Arbeitsfeld der Kinder- und Jugendarbeit

Sehr geehrte Damen und Herren,

bezugnehmend auf die Kürzungen in der Jugendarbeit im XXX legen wir Beschwerde ein und bitten um Einflussnahme bzw. Korrektur der bisherigen Förderpraxis im Landkreis XXX.

Begründung:

Die Förderrichtlinie Jugendarbeit des Landkreises entspricht nicht den Vorgaben des 8. Sozialgesetzbuches. In § 74 SGB VIII ist formuliert, dass für die Träger der freien Jugendhilfe die gleichen Maßgaben wie für den öffentlichen Träger der Jugendhilfe gelten sollen (vgl. § 74, Absatz 5, Satz 2 SGB VIII). Soll ist in der Rechtsprechung ein hoher Verpflichtungsgrad von dem nicht abgewichen werden kann. In der FRL Jugendarbeit werden die förderfähigen Personalkosten für MitarbeiterInnen der Träger der freien Jugendhilfe unterhalb der tariflichen Vereinbarungen des TvÖD beschränkt. Somit ist eine angemessene Vergütung und Gleichstellung der MitarbeiterInnen (mit den MitarbeiterInnen des örtlichen Trägers der Jugendhilfe) in den Organisationen nicht möglich. Dies widerspricht nicht nur der Formulierung im § 74 SGB VIII, sondern auch dem Gleichheitsgrundsatz (vgl. Artikel 3 GG).

Ebenfalls unangemessen und gegebenenfalls rechtswidrig ist die Beschränkung der förderfähigen Kosten auf max. 50 %, die der Landkreis nach der Förderrichtlinie trägt. In diesen Fällen wird die Finanzierung der Jugendarbeit in das Belieben von Kommunen gestellt. Das hat zur Folge, dass bei Nicht- oder nicht ausreichender Beteiligung einer Kommune, kein Angebot der Jugendarbeit vorgehalten wird, da der Landkreis (mit seinem örtlichen Träger der Jugendhilfe)  maximal 50 % finanziert und erwartet, dass die Träger der freien Jugendhilfe die verbleibenden Kosten selbst tragen. § 74 SGB VIII gibt jedoch vor, dass die Träger der Jugendhilfe einen angemessenen Anteil an Eigenleistungen erbringen sollen. Berücksichtigt werden sollen dabei die finanziellen, als auch sonstigen Verhältnisse der freien Träger (vgl. § 74 Absatz 1 Nr. 4, Absatz 3 Satz 3 SGB VIII). Mit Blick auf die nach Richtlinie zu erbringenden Eigenmittel (3 % bei den Personalkosten, 10 % bei den Sachkosten) wird eine Pauschalierung vorgenommen, die einer kritischen Prüfung nicht standhält. Diese Regelung verstößt gegen die Gesetzesnorm in § 74 Absatz 1, Nr. 4 und Absatz 3, Satz 3, SGB VIII. Somit übernimmt der öffentliche Träger der Jugendhilfe nicht einmal mehr 50% der entstehenden Kosten in der Jugendarbeit, obwohl er nach § 79 SGB VIII die Gesamtverantwortung trägt (vgl. § 79, Absatz 1, SGB VIII).

Mit den rechtswidrigen Begrenzungen bzw. der Höhe der zu erbringenden Eigenmittel gefährdet der Landkreis ebenso seine Gewährleistungspflicht. Er ist verpflichtet, die notwendigen Einrichtungen und Dienste ausreichend, rechtzeitig und plural zur Verfügung zu stellen (vgl. Kunkel 2011, S.2; § 79, Absatz 2, Nr. 1 SGB VIII). Diese Gewährleistungsverpflichtung ist im Landkreis nur noch punktuell gegeben und wird in einigen Kommunen nicht mehr vorgehalten.

Darüber hinaus stellt der örtliche öffentliche Träger permanent nur beschränkt vorhandene Haushaltsmittel als Sach- und Entscheidungsleitendes Argument in den Vordergrund. Eine Ermessensentscheidung „im Rahmen der verfügbaren Haushaltsmittel“ ist zu treffen (§ 74 Abs. 3 Satz 1 SG B VIII). Bei wörtlicher Auslegung würde dies bedeuten, dass eine Maßnahme nicht oder nur unzureichend gefördert werden kann, wenn Haushaltsmittel nicht oder nur unzureichend zur Verfügung stehen. Diese Auslegung widerspräche der Fundamentalnorm des § 79 SGB VIII, wonach alle Aufgaben – also auch die Jugendarbeit – bedarfsgerecht zu erfüllen sind. Eine systematische Auslegung des § 74 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII ergibt daher, dass Haushaltsmittel in der Höhe zur Verfügung zu stellen sind, sodass alle Aufgaben erfüllt werden können. „I.v.m. § 79 SGB VIII ist daher § 74 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII als ‚normatives Gerundiv‘ zu verstehen“ (Kunkel, Kepert, Pattar, 2018, S. 985, Rn 30).

Ebenfalls als kritisch zu betrachten ist die beschlossene Richtlinienanpassung der Richtlinie zur Förderung der Kinder- und Jugendarbeit im ländlichen Raum; Kommunale Kinder- und Jugendpauschale Landkreis XXX. Mit dieser gewährt der Landkreis, als örtlicher Träger der öffentlichen Jugendhilfe, Zuwendungen zur Erfüllung von Aufgaben der Jugendarbeit im ländlichen Raum, ohne geförderte Planstellen. Mit Wirkung vom XXX wurde die Richtlinie u. a. dahingehend angepasst, dass die o.g. Förderung gleichrangig zur Bezuschussung der in der Teilfachplanung verankerten jugendhilfeplanerisch relevanten Strukturen erfolgt und damit in ihrer Förderpriorität den hauptamtlichen Strukturen gleichgestellt ist. Diese Pauschale entspricht nicht den Grundsätzen des SGB VIII. Zum einen wird damit das Fachkräftegebot unterminiert und zum anderen werden jegliche Qualitätsansprüche an die Jugendhilfe ad absurdum geführt. Finanzielle Mittel werden demzufolge zweckentfremdet den Vorstellungen einzelner Kommunen unterworfen und die Vorgaben des SGB VIII ignoriert. Eine Gleichstellung mit professionellen Angeboten kann bereits aus Gründen des Subsidiaritätsgebotes nicht möglich sein. Bei Kommunen handelt es sich keinesfalls um Träger der freien Jugendhilfe, dazu fehlt es ihnen an wesentlichen Merkmalen. Außerdem erfüllen sie nicht die Anforderungen die in § 74 SGB VIII abschließend aufgeführt sind (Münder, Meysen, Trenczek, S. 951, Rn 6).

Das Bundesverwaltungsgericht hat in mehreren Urteilen bereits darauf hingewiesen, dass eine  Praxis welche die Träger der freien Jugendhilfe derart benachteiligt, unzulässig ist (vgl. BVerwG 5 C 25.07). Dies gilt besonders für die Höhe der Förderung und die Personalkosten welche durch die Übernahme (durch Träger der freien Jugendhilfe) der Aufgaben des Jugendamtes entstehen. Dennoch beharrt der Vogtlandkreis auf dieser Verfahrensweise.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind die Träger der freien Jugendhilfe noch gewillt auf ein Verfahren vor dem zuständigen Verwaltungsgericht zu verzichten. Sollte es jedoch nicht möglich sein, diese rechtswidrige Form der Finanzierung anzupassen, werden die Träger der freien Jugendhilfe unter Beiziehung ihrer Rechtsbeistände feststellen lassen, wie eine dem SGB VIII entsprechende Förderung gestaltet werden muss. Sie werden dafür sorgen, dass sich der Landkreis an die Gesetzesvorgaben der Bundesrepublik Deutschland hält.

Mit freundlichen Grüßen

Vorname Name

Quellen:

BVerwG, Urteil vom 17.07.2009 – 5 C 25.08 In: www.bverwg.de/170709U5C25.08.0, Nr. II, Abs. 31 ff. (abgerufen am 15.12.2023)

Kunkel Peter-Christian; Kepert Jan; Pattar, Andreas Kurt (2018): Sozialgesetzbuch VIII. Kinder- und Jugendhilfe. Lehr- und Praxiskommentar. Wiesbaden: Nomos

Kunkel, Hans Peter (2011): Gut­achten zur Finanzierung der Jugend­arbeit nach § 74 SGB VIII.  Rechtsfehler und Rechts­behelfe. In: https://docplayer.org/6519957-Gutachten-zur-finanzierung-der-jugendarbeit-nach-74-sgb-viii-rechtsfehler-und-rechtsbehelfe.html (abgerufen am 15.12.2023)

Münder, Johannes; Meysen, Thomas; Trenszek, Thomas; (2022): Frankfurter Kommentar SGB VIII. Kinder- und Jugendhilfe. 9., vollständig überarbeitete Auflage. Baden-Baden: Nomos

SGB VIII, 8. Buch Kinder- und Jugendhilfe in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. September 2012 (BGBl. I S. 2022), das zuletzt durch Artikel 10 Absatz 10 des Gesetzes vom 30. Oktober 2017 (BGBl. I S. 3618)

Der Kidsklub Purpur in Erfurt – für alles und jede*n gibt es Platz

Hier finden Sie die vollständige Literaturliste zum Beitrag „Der Kidsklub Purpur in Erfurt – für alles und jede*n gibt es Platz“ von Anja Richter in der CORAX-Ausgabe 4/2023.

Kidsklub Purpur: falken-erfurt.de/kidsklub

Literatur

SJD – Die Falken Erfurt (2021): Pädagogisch Arbeiten im Kidsklub Purpur – Werde Helfer*in.

Casajus, Estefania (2022): Klassismus und Rassismus in der Jugendverbandsarbeit am Beispiel der SJD – Die Falken. In: Drücker, Ansgar; Rezene, Dyana & Seng, Sebastian (Hrsg.): Klassismus und Rassismus. Dimensionen einer vielschichtigen Intersektion. Düsseldorf: Düssel-Druck & Verlag GmbH.

Eppe, Heinrich (2013): Sozialistische Erziehung. Ein Blick zurück! In: 24h sind kein Tag – Sozialistische Erziehung „Es gibt keine andere als politische Pädagogik…“, 31/2013.

Ilversgehoven (2023): Wikipedia. de.wikipedia.org/wiki/Ilversgehofen (abgerufen am 22.09.2023).

Stadt Erfurt (Hrsg.) (2020): Sozialstrukturatlas der Stadt Erfurt. www.erfurt.de/mam/ef/service/mediathek/publikationen/2020/sozialstrukturatlas_2020.pdf (abgerufen am 22.09.2023).

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